Ich dachte, ich würde ein Kinderbuch lesen

Als seine Eltern ohne die Kinder Urlaub machen (um ihre Ehe zu retten), und seine ältere Schwester sich einfach heimlich mit ihren Freunden absetzt, findet Victor sich allein zuhause wieder. Victor plant, das zu tun, was jedes Kind in seiner Situation tun würde — sich an den Dingen zu erfreuen, die ihm Spaß machen. In Victors Fall sind dies: Modelflugzeuge bauen, Nachrichtensprecher Walter Cronkite im Fernsehen sehen, Pizza mit Sardellen essen, ins Schwimmbad gehen, und, natürlich, abends lange aufbleiben, um Horrorfilme zu sehen.

So entdeckt Victor spät nachts die Eidechsen und die Musik, die sie im Fernsehen spielen: Echte Eidechsen, mit echten Instrumenten, und Victor muß einfach alles über sie herausfinden.

Aber was beginnt wie die übliche Unterhaltung für die ganze Familie, nach der Art von "Kevin allein zuhaus", stellt sich als etwas anderes heraus... und so erwischte ich mich, etwa auf Seite 25 dabei, wie ich dachte, "Oh nein, bitte keine Geschichte übers Erwachsenwerden!" Als Victor den Horrorfilm "Invasion der Körperfresser" (im Buch "Invasion of the Pod People", deutscher Filmtitel "Die Dämonischen") sieht, wird ihm klar, wie das Konzept der Körperfresser auf einige der Menschen in seinem eigenen Leben zutrifft.

Oh nein, die Körperfresser!

Nun, ein Kind, welches sich sorgt, ob es ein Körperfresser werden wird — das ist definitiv eine Geschichte übers Erwachsenwerden. Aber Mister Pinkwater tat seinem Protagonisten nicht das an, was die meisten Autoren solcher Geschichten gewöhnlich tun — ihre Traumata wiederholen, Konflikte eskalieren bis zum totalen Zusammenbruch, und, durch das Fokussieren auf das Körperfressertum, diesem letztlich selbst anheimfallen.

Nicht so Victor. Er freundet sich mit dem Hühnermannn an, welcher ihm rät, sich nicht zu sehr um die Körperfressersache zu kümmern, sonst könnte er einer von ihnen werden. Sie scheinen so zu tun, als wären sie Menschen, ohne es wirklich zu meinen, oder zu verstehen... Irgendwie scheinen sich Leute, welche sich zu sehr um die Körperfresserei kümmern, gewöhnlich selbst damit zu infizieren.

— der Hühnermann

Und das war's eigentlich schon zum Thema Körperfresser. Dieses Problem wird zwar immer wieder in Victors Leben auftauchen, aber jetzt hat er einen guten Rat, wie er dem begegnen kann, also kann er sich jetzt wieder der interessanteren Sache mit den Eidechsen und ihrer Musik widmen.

Lizard Music steht in grobem Kontrast zu einem weiteren, weniger fiktiven Kind der späten 1970er Jahre, Christiane F. (Christiane F. — Wir Kinder vom Bahnhof Zoo). Christiane F. war genauso alt wie Victor, als sie begann, mit Drogen zu experimentieren, und verdarb sich ihr Leben letztendlich mit Heroin, richtungslos und verwirrt. Ihre Autobiographie inspirierte eine neue Modewelle, und trug definitiv zu meiner Faszination für Berlin und David Bowie bei, aber ich kann nicht sagen, daß ich etwas daraus gelernt hätte, und heute würde ich das Buch vermutlich nicht mal mit Handschuhen anfassen wollen.

Ist Christiane F. ein Körperfresser? Nun, sie lebt wieder in Berlin, und ihr Kind wurde ihr von den Behörden entzogen. Sie hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht, sondern nur an die nächste Generation weitergegeben, was meine Definition von Körperfressertum ist.

Ein Leben voller Wunder erwartet Dich

Ich werde nicht zuviel verraten über Victors Abenteuer mit den eigenwilligen Menschen, welche er auf der Suche nach den Eidechsen trifft, oder über seine Erlebnisse auf der Eidechseninsel und in Donnerkeil City. Aber sollte das Lesevergnügen nicht mindern, wenn ich erwähne, daß Victor eine kurze Einführung in eine alternative Zivilisation erhält, und Konzepte kennenlernt, welche sich als nützliche Munition gegen die Konventionen der Körperfresserwelt herausstellen könnten.

Victors Abenteuer ist nach seinem kurzen Besuch auf der Eidechseninsel nicht vorbei, und am Ende des Buches ist klar, daß das wahre Abenteuer noch vor ihm liegt, und er gut gerüstet ist mit all jenen Dingen, die den Protagonisten gewöhnlicher "Coming of Age"-Geschichten normalerweise abhandenkommen: Hoffnung, einem Sinn für Wunder, einem Plan, Wünschen, etwas Nützlichem zu tun, Selbstvertrauen. Victor wird sicher sein vor Drogen, weil keine Droge jemals der Eidechseninsel, Donnerkeil City und den Reynolds, wie die Eidechsen kollektiv benannt sind, nahekommen könnte. Victor weiß, wie man Freunde findet, und das Unbekannte erforscht; er wird niemals eine Lebenskrise haben, und sich darüber das Hirn zermartern, wie merkwürdig er ist, wer er überhaupt ist, und ob er jemals geliebt werden wird, oder gut genug ist.

Eine Empfehlung, und: Ich weiß schon, wer mein Exemplar bekommt

Lizard Music behandelt das Thema der Körperfresser (heute würden wir sie "Schlafschafe" nennen), daher betrachte ich dies nicht als Kinderbuch: Es sollte aber eines der ersten Bücher sein, welches ein den Kinderbüchern grad entwöhntes Kind liest. Zuallererst möchte ich es jenen Eltern empfehlen, welche Angst haben, ihr Kind könnte eine weitere Christiane F. werden. Lesen Sie Lizard Music, und dann geben sie dieses Buch ihrem Kind, wenn es etwa 9 ist. Dies ist ebenfalls ein gutes, heilendes Buch für alle, die von anderer Leute Traumata-Geschichten traumatisiert sind.

Das erste Buch, welches ich las, das kein Kinderbuch war, war ein illustrierter Bericht über die Verbrechen der Nazis, und soweit ich das heute beurteilen kann, nach jahrelanger Aufarbeitung all der Hirnwäsche, handelte es sich dabei um eine Fortsetzung der alliierten Kriegspropaganda. Ich werde nicht versuchen, zu beschreiben, was dieses Buch bei mir anrichtete, aber es sollte sehr offensichtlich sein, daß es sich dabei nicht um geeignete Lektüre für 7-jährige handelte.

Ich dachte, ich würde mein Exemplar von Lizard Music behalten, um es später wieder zu lesen, aber jetzt denke ich, daß mein Patenkind vielleicht damit Englisch lernen mag, speziell, wenn er dem Autoren zuhören kann, wie dieser sein eigenes Buch vorliest.

Ein kostenloses Hörbuch, gelesen vom Autor, kann hier heruntergeladen werden: .

Anscheinend wird Lizard Music gerade verfilmt; hoffentlich werden sowohl der Film als auch das bisher nicht ins Deutsche übersetzte Buch auch in Deutschland veröffentlicht.

Zwei weitere, positiv stimmende Filme über Jungen (mit älteren, rebellischen Schwestern) und das Thema Erwachsenwerden sind "Almost Famous — Fast Berühmt" und "Ferris macht blau".

Christiane F. —

Christiane F. — Wir Kinder vom Bahnhof Zoo